Pultrusion am Fraunhofer ICT: Wir ziehen an einem Strang
Dr. Michael Wilhelm, Leiter der Arbeitsgruppe Strukturleichtbau am Fraunhofer ICT, erläutert im Interview die Eigenschaften des Pultrusionsverfahrens sowie die aktuellen Themen in der Forschung und Entwicklung zur Pultrusion.
Herr Dr. Wilhelm, Sie sind einer der Experten für das Fertigungsverfahren der Pultrusion am Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT in Pfinztal. Erste, triviale Frage: Gibt es einen gebräuchlichen deutschen Begriff dafür? Und zweitens, etwas komplexer: Können Sie das Verfahren kurz erklären?
Dr. Michael Wilhelm: Der deutsche Begriff für Pultrusion ist »strangziehen«, das Wort »Pultrusion« ist aus dem Englischen übertragen; dort ist es die Zusammenfügung aus »pull«, also ziehen, und »extrusion«. Und das beschreibt bereits grob das Verfahren: Bei der Pultrusion werden faserverstärkte Kunststoffe durch ein formgebendes Werkzeug zu einem Profil geformt, welches aus dem Extruder abgezogen wird. Das funktioniert, weil wir eine Faserverstärkung einsetzen, beispielsweise Glas- oder Carbonfasern, die einen Großteil des pultrudierten Profils ausfüllen und seine Leistungsfähigkeit bestimmen.
Ist die Pultrusion Kunststoffen vorbehalten, oder würde sie auch mit anderen Werkstoffen, beispielsweise Metallen funktionieren?
Dr. Michael Wilhelm: Typischerweise ist Pultrusion ein Verfahren zum Imprägnieren von Verstärkungsfasern mit Kunststoffen. Es gibt bestimmt auch Sonderformen der Pultrusion, die Metall in solche Profile integrieren, aber das sind Nischenprodukte.
Sie sagten eben »Leistungsfähigkeit«. Worin liegt denn die Leistung eines Pultrusionprofils?
Dr. Michael Wilhelm: Faserverstärkte Kunststoffprofile, die durch Pultrusion entstehen, können viel höheren Belastungen standhalten als gewöhnliche Kunststoffprofile, wie man sie vielleicht aus Fensterrahmen kennt. Damit eignet sich die Pultrusion zum Beispiel zur Herstellung tragender Bauteile für erschwerte Bedingungen; Kühlanlagen in Chemiewerken sind eine Anwendung: Dort ist es oft feucht und es gibt häufige Temperaturwechsel – die klassischen Doppel-T-Stahlträger würden rasch korrodieren. Auch in Küstennähe, wo salzhaltige Luft Korrosion begünstigt, spielen Pultrusionsprofile ihre Stärken aus, weil sie nicht rosten. Das kann schon bei nicht besonders belasteten Bauteilen wie einem Laternenmast ein wesentlicher Vorteil sein.
Kunststoff statt Stahl – das klingt gewagt …
Dr. Michael Wilhelm: Kunststoffe und Faserverbundwerkstoffe werden oft unterschätzt! Pultrudierte Profile können zum Beispiel auch den Armierungsstahl und die Baustahlmatten in Stahlbeton-Bauwerken ersetzen. Bewehrungsstäbe aus GfK, also Glasfaser-verstärktem Kunststoff korrodieren nicht. Das ist besonders für Infrastrukturbauwerke interessant: Wenn Sie heute unter Autobahnbrücken entlangfahren, sehen Sie oft den Rost am Beton runterlaufen. GfK hat das Problem nicht, was die Haltbarkeit erhöht und die Instandhaltungskosten senkt. In Europa muss sich pultrudiertes GfK im Straßenbau noch durchsetzen, in Nordamerika wird es bereits eine ganze Weile eingesetzt.
Abgesehen von der Rost-Problematik: Sehen Sie weitere Vorteile von pultrudiertem GfK gegenüber Stahl in Bauwerken?
Dr. Michael Wilhelm: Ja, die Wärmeleitfähigkeit von GfK ist zum Beispiel auch deutlich niedriger, damit kann man Kältebrücken vermeiden.
Als Experte für Pultrusion sind Sie vermutlich auch ein bisschen Fan des Verfahren. Aber mal Hand aufs Herz: Was können andere Fertigungsverfahren besser, Strangpressen zum Beispiel?
Dr. Michael Wilhelm: Beim Strangpressen ist, anders als beim Strangziehen, also der Pultrusion, keine Faserverstärkung realisierbar. Das vereinfacht zwar die Produktion, ist also in der Regel preiswerter, aber es hat bei weitem nicht dieselbe Steifigkeit und Festigkeit. Man muss darauf achten, das richtige Material am richtigen Ort einzusetzen. Es wäre kaum sinnvoll, Fenster für Wohnhäuser aus Pultrusionsprofilen zu fertigen.
Weil das zu teuer wäre?
Dr. Michael Wilhelm: Und weil die Lasten auf einen Fensterrahmen relativ gering sind, sodass die Pultrusion ihre Vorteile gar nicht ausspielen könnte. Mir fällt noch ein besseres Beispiel ein: Kabelkanäle in Wohnhäusern. Wenn man die nicht strangpressen, sondern pultrudieren würde, wären sie schwieriger zu montieren, hätten aber keinen höheren Nutzen. Anders ist aber die Situation bei Kabelkanälen für Signal- und andere Funktionsleitungen an Bahnstrecken; die stehen üblicherweise etwa alle 10 Meter auf einem kleinen Sockel, und für diese 10 Meter brauchen sie Steifigkeit und müssen allen möglichen Umwelteinflüssen trotzen. Deshalb werden diese normalerweise in Pultrusion gefertigt.
Wie sieht der Vergleich der Pultrusion mit Spritzgießen und 3D-Druck aus?
Dr. Michael Wilhelm: Diese Verfahren lassen sich nicht vergleichen, sie adressieren vollkommen unterschiedliche Produkte: Spritzgießen ist ein diskontinuierlicher Prozess; man presst flüssigen Kunststoff in eine Form, lässt ihn aushärten, öffnet die Form, holt das Bauteil raus und startet den nächsten Zyklus. Damit kann man komplexe, dreidimensionale Geometrien erzeugen, beispielsweise Spielzeugfiguren oder Getränkekästen. Pultrusion läuft kontinuierlich ab, oft auch viele Wochen ohne Unterbrechung. Das Verfahren ist sehr robust, was in der industriellen Praxis natürlich Kostenvorteile bietet. Heraus kommt allerdings ein geometrisch eher einfaches Profil mit konstantem Querschnitt und in der Regel linear. Also ein »gerades Profil wie zum Beispiel der Doppel-T-Träger. Aber selbst hier gibt es Sonderformen wie die Radiuspultrusion für bogenförmige Profile.
Der Vergleich mit 3D-Druck ist noch schwieriger: Pultrusion eignet sich für große Stückzahlen mit geringer Variantenvielfalt, beim 3D-Druck verhält es sich genau umgekehrt. Spannend wird es allerdings, wenn man beide Verfahren verbindet, zum Beispiel mit dem 3D-Drucker Pultrusionsprofile um Steckverbindungen ergänzt.
Apropos »spannend«, kommen wir mal zur wissenschaftlichen Seite: Worin besteht der Kern der Pultrusionsforschung am Fraunhofer ICT?
Dr. Michael Wilhelm: Wir forschen in der Pultrusion sehr viel an neuen Materialien für diese Profile, zum Beispiel an reaktiven Thermoplasten. Bei der sogenannten In-situ-Pultrusion verarbeiten wir Monomere, die direkt im Prozess zum Kunststoff polymerisieren. Durch die dünnflüssige Ausgangssubstanz der Monomere können bei gleichem Profilquerschnitt noch mehr Fasern in ein pultrudiertes Profil eingebracht werden, was seine mechanischen Eigenschaften wie Zugfestigkeit und Biegeverhalten weiter verbessert.
Wenn ich Ihnen richtig gefolgt bin, geht es bei der Pultrusion um das Miteinander von Polymeren und Fasern. Ist denn auch bei den Fasern mit Fortschritten in der Forschung zu rechnen?
Dr. Michael Wilhelm: Ja, selbstverständlich: Wir arbeiten zum Beispiel mit Naturfasern aus Jute und Flachs. In Kombination mit biobasierten Polymeren wie PLA, das auf Milchsäurebasis erzeugt wird, können wir den CO2-Fußabdruck der in Pultrusion erzeugten Profile signifikant reduzieren.
Abgesehen davon, dass die Pultrusion wie alles immer schneller und preiswerter werden soll: Welches Entwicklungspotenzial sehen Sie für die Pultrusion noch?
Dr. Michael Wilhelm: Es gibt da noch eine ganze Menge offener Fragen. Wir arbeiten unter anderem an der Optimierung von Prozessparametern und nutzen dabei die Möglichkeiten der Digitalisierung. Sensoren in der Produktionslinie helfen uns, die Vorgänge bei der Pultrusion auf Mikro-Ebene besser zu verstehen. Das genaue Verständnis und die Anpassung der Parameter im Pultrusionsprozess kann einerseits die Produktionsrate, also die Effizenz steigern. Es kann aber auch genutzt werden, um den Ausschuss zu minimieren, die Qualität belegbar zu dokumentieren und die Nachverfolgbarkeit der Materialien sicherzustellen.
Sie spielen auf Fälle an, wenn in Pultrusion erzeugte Bauteile ihre Leistungsversprechen einmal nicht einhalten sollten?
Dr. Michael Wilhelm: Zum einen das, ja. Zum anderen, und das wird weitaus mehr Unternehmen betreffen, plant die Europäische Union die Einführung digitaler Produktpässe. Für Batterien gibt es sie bereits, weitere Produkte sollen folgen, um das Recycling von Bauteilen zu erleichtern. Am Lebensende der Produkte ist es wichtig, zu wissen, was genau beispielsweise in einem Pultrusionsprofil enthalten ist, damit man es recyceln kann. Da forschen wir am Fraunhofer ICT an vorderster Front, um die heimische Industrie zu unterstützen. Der effiziente Einsatz von Rohstoffen liegt in unser aller Interesse und ist auch ein wirtschaftlicher Wettbewerbsvorteil.